Smarte Aussichten

Hinweis: Dieser Beitrag wurde bereits am 04.06.2018 bei HELIOS aktuell veröffentlicht.

Neue Techniken lösen seit jeher neben Begeisterung auch Unsicherheiten aus. Prof. Dr. Albrecht Stier, Chefarzt Allgemein- und Viszeralchirurgie im Helios Klinikum Erfurt, rät: Bleiben wir neugierig und offen.

Als im Jahr 1980 der erste entzündete Blinddarm endoskopisch entfernt wurde, ging ein Aufschrei durch die Fachkreise. Der Operateur, so empörte Kollegen, sei unverzüglich aus der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie auszuschließen.

Keine 40 Jahre später ist aus dem Wagnis minimalinvasiver, also möglichst schonender Chirurgie eine Selbstverständlichkeit geworden. Kein Chirurg, der diese patientenfreundliche und zugleich wirtschaftliche Methode nicht anwendet und weiterentwickelt. Der Operateur, der seinerzeit Pionierarbeit leistete, ist – nicht nur vor diesem Hintergrund – längst rehabilitiert.

Keine weiteren 40 Jahre wird es dauern, dass wir in der Medizin auf noch bedeutendere Entwicklungen zurückblicken. Die Aussichten sind in jeder Hinsicht sehr smart. Basis bildet die Digitalisierung. Computergesteuerte Operationen und Prozesse oder auch die elektronische Patientenakte sind da erst der Anfang. Der Einsatz miniaturisierter Medizintechnik, das Typisieren von Tumoren mithilfe aus Blutstropfen gewonnener „Fingerabdrücke“, die Vernetzung von Daten eines Patienten mit denen anderer Patienten – das wird unsere Arbeit prägen. Wir werden Befunde via App erhalten, ohne dass wir den dazugehörigen Patienten überhaupt gesehen haben. Umgekehrt werden wir unsere ärztlichen Empfehlungen auf dem gleichen digitalen Weg, ohne persönlichen Kontakt, übermitteln. Wir werden Krankheiten deutlich früher erkennen. Wir werden Medikamente viel passgenauer einsetzen. Und auch das bringen die Entwicklungen mit sich: Der potenzielle Patient wird seine Gesundheit in großen Teilen selbst managen.

Dies alles auf Basis von Zukunftstechnologien im Kitteltaschenformat. Denn es sind unsere Smartphones, die heute schon spielend leisten, was unlängst noch Rechner in Größe einer Fünfraumwohnung an ihre Grenzen brachte: Ultraschallgeräte nutzen den Bildschirm des Smartphones als Monitor. Smartphones zeichnen Langzeit-EKGs auf und senden diese zur Beurteilung an den Arzt.

Wir erwarten zum Beispiel demnächst Studienergebnisse, die auf Daten einer Migräne-App basieren. Bisher konnte keine Studie der Welt die Frage beantworten, was Migräneanfälle wirklich auslöst. Die Wissenschaftler gleichen nun die Eingaben Tausender Nutzer unter anderem mit lokalen Wetterdaten ab und werden daraus Rückschlüsse ziehen, inwiefern Kopfschmerzattacken tatsächlich etwas mit Wetterwechseln zu tun haben. Und es geht noch kleiner: Smarte Kontaktlinsen messen den Blutzuckerspiegel und leiten die Daten an den Hausarzt weiter, der dann gegebenenfalls seine Therapieempfehlungen anpasst.

"Wir werden künftig weniger Krankheiten behandeln. Wir werden sie vielmehr verhindern."

Smarte Aussichten mit Herausforderungen für uns Mediziner: Bleiben wir neugierig und offen. Unsere Expertise ist nicht gleich infrage gestellt, wenn Patienten sich im Internet informieren und unsere Diagnosen und Therapieempfehlungen mit ihren Recherchen abgleichen. Vielmehr ist das der erste Schritt hin zu einem grundsätzlichen Wandel unseres Berufsbildes: Wir werden künftig weniger Krankheiten behandeln. Wir werden sie vielmehr verhindern.

Verlieren wir nicht die Demut vor der Natur. Die immensen Fortschritte in der Medizin werden immer auch begleitet sein von Rückschlägen. Bis wir zur Behandlung oder gar zur Verhinderung bösartiger Erkrankungen eine Tablette verschreiben können, haben unsere Molekularpathologen und Onkologen noch einige schlaflose Nächte vor sich. Denn auch Zellen sind schlau und können sich im Therapieverlauf gegen die Wirkung der Tablette wehren.

Und nicht zuletzt: Nehmen wir unsere Patienten auf diesen neuen Wegen mit. Vertrauen muss unsere Beziehung maßgeblich bestimmen. Den ersten endoskopisch entfernten Blinddarm hätte es schließlich auch nie gegeben, hätte der Patient nicht das nötige Vertrauen in seinen Arzt gehabt.