06. September 2024
Wenn die Wirbelsäule operiert wird, kann es auf Millimeter ankommen. Operateurinnen und Operateure brauchen bei solchen hochkomplexen Eingriffen ein gutes Augenmaß, eine präzise räumliche Vorstellungskraft, Abstraktionsvermögen – und geschickte Hände. Doch der Mensch mit seinen Fähigkeiten stößt naturgemäß immer wieder an Grenzen. Viele Kliniken nutzen deshalb schon seit langem hochauflösende dreidimensionale Darstellungen und chirurgische Navigationssysteme, wie etwa die spinale Navigation, für ihre Arbeit. Doch das alles ist erst der Anfang. Das Helios Klinikum Berlin Buch gehört zu den ersten Kliniken in Deutschland, die Augmented Reality im OP-Saal einsetzt.
Die Klinik für Neurochirurgie und das Zentrum für Wirbelsäulentherapie am Helios Klinikum Berlin-Buch, haben das Know-how rund um Eingriffe an der Wirbelsäule kontinuierlich weiterentwickelt: Unter Leitung von Chefärztin Professorin Dr. Yu-Mi Ryang setzt die Klinik schon seit zwei Jahren Augmented Reality (AR) bei stabilisierenden Wirbelsäulenoperationen ein. Berlin-Buch ist damit eine der ersten Kliniken in Deutschland, die KI in der Neurochirurgie zum Wohle der Patientinnen und Patienten einsetzt. Die AR-Technologie macht es möglich, dass die Eingriffe präziser, schonender und auch kürzer verlaufen. Ein Blick über die Schulter von Prof. Dr. Ryang zeigt, wie genau AR hier eingesetzt wird und warum das ein wichtiger Schritt in die Zukunft ist.
Im OP herrscht höchste Konzentration. Prof. Ryang beugt sich über ihren Patienten. Der leidet an einem Tumor an der Wirbelsäule, der die Knochen schon teilweise zerstört hat und zudem auf das hochempfindliche Rückenmark drückt. In den nächsten zwei bis drei Stunden wird die Chirurgin das Rückenmark vom Tumor befreien und den durch den Tumor destabilisierten Bereich der Wirbelsäule mit einem sog. Schrauben-Stab-System verstärken. Es soll die Wirbelsäule wieder stabilisieren und vor allem Schmerzfreiheit bringen. Auch bei anderen Indikationen wenden die Ärzte-Teams in der Neurochirurgie solche minimalinvasive OP-Techniken an, die sie mit der AR-Technologie koppeln: etwa bei den häufig auftretenden Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule, bei Wirbelbrüchen nach einem Unfall oder bei Osteoporose.
Rein optisch ähnelt dieses Schrauben-Stab-System einem Bahngleis. Zunächst werden zwischen vier und acht, teilweise auch deutlich mehr Schrauben fest im „Gleisbett“, also den Wirbelkörpern, verankert. Dazu werden die Schrauben an sogenannten Tower befestigt, die wie eine Art Schraubenverlängerung funktionieren. Ohne diese Tower würden die Schrauben beim Einsetzen in der Tiefe des OP-Gebiets verschwinden. Sie wären für den Operateur nicht mehr sichtbar und durch die Rückenmuskulatur kaum erreichbar.
Dies alles wird vorzugsweise minimal-invasiv über kleine Schnitte in der Haut durchgeführt, um den Eingriff möglichst gewebeschonend und blutarm zu machen. Weitere Vorteile dieses gewebeschonenden Vorgehens sind eine kürzere OP-Dauer, da die Rückenmuskulatur nicht aufwändig von der Wirbelsäule gelöst werden muss, wie dies bei offenen Eingriffen geschieht und weniger postoperative Schmerzen nach dem Eingriff.
Durch die minimal-invasive OP-Technik kann Prof. Ryang zwar immer nur einen kleinen Ausschnitt des OP-Bereichs mit eigenen Augen sehen. Dank KI ist das aber kein Hindernis: Wo genau die Stäbe eingebracht werden müssen und vor allem mit welcher Länge und Krümmung, genauso wie die Lage von anderen wichtigen Strukturen der Wirbelsäule – etwa dem Rückenmark oder auch dem Tumor selbst – all das kann ihr mit Hilfe von Augmented Reality angezeigt werden. Letzteres erhöht zusätzlich die Sicherheit des Eingriffs.
Im weiteren Verlauf der OP wird es noch einmal knifflig: Je nach Krümmung der Wirbelsäule muss Prof. Ryang die Titanstäbe vorab so formen, dass sie sich passgenau in die Schraubenköpfe einfügen. Schon wenige Millimeter Abweichung können hier einen großen Unterschied machen. Früher verließ sich das Team bei der Formung und Einpassung der Stäbe rein auf die operative Erfahrung und Augenmaß. „Gerade bei schweren Verkrümmungen der Wirbelsäule kann das aber äußert schwierig sein“, erklärt die Chirurgin. Zudem sei es relativ zeitaufwändig. Genau hier hilft heute AR: „Mithilfe der Augmented Reality können wir die ideale Position, Länge und Krümmung der Stäbe während der laufenden Operation in wenigen Minuten ermitteln und die Stäbe entsprechend vorbereiten.“
Beim Stichwort Augmented Reality (AR), auf Deutsch „erweiterte“ oder „angereicherte“ Realität – denken viele an Virtual Reality (VR-) Brillen. In Berlin-Buch arbeitet das Team der Neurochirurgie jedoch mit handelsüblichen Tablets, die mit einer eingebauten Kamera und einer speziellen Software ausgestattet sind.
Dr. Ryang richtet die Tabletkamera auf den Rücken des Patienten. Durch Schwenken des Tablets wird das OP-Gebiet gescannt und die zuvor an die Schraubentower angebrachten QR-Codes eingelesen. Auf dem Tablet erscheinen dann nach und nach die virtuellen 3D-Tower und virtuellen Stäbe, die auf das Echtzeitbild des Patienten übertragen werden. „Auch Veränderungen der Lagerung während des Eingriffs stellen kein Problem für mich dar – die Orientierung ist jederzeit gewährleistet“, so Prof. Ryang. Mit Hilfe der angebrachten QR-Codes kann das Tablet also über die integrierte Kamera die genaue Position der eingebrachten Schrauben und die exakte Länge und Krümmung der Stäbe bestimmen. Und als virtuelles 3D-Bild mit dem Echtzeitbild des Patienten ‚verschmelzen‘. Anhand dieser „erweiterten“ Realität ist es der Operateurin dann möglich, mittels des Tablets die Stäbe für jeden einzelnen Patienten individuell maßanzufertigen.
Die Software berechnet dafür eine Art Schablone, mit der die Chirurgin die Titanstäbe von Hand in die ideale Form biegen kann. Zum Abgleich legt sie die Stäbe immer wieder auf die Schablone. Früher kam es schon einmal vor, dass eine Schraube, nachdem sie eingebracht war, wieder aus ihrer Position gerissen wurde – wenn der Stab nicht perfekt gebogen war. Heute sei dieses Risiko nur noch minimal, so die Ärztin: „Wir erhoffen uns, dass es zu deutlich weniger postoperativen Komplikationen im Langzeitverlauf kommt, wie etwa z.B. einem Stabbruch, einer Schraubenlockerung oder einem anderen Materialversagen. All das würde eine Revisionsoperation notwendig machen. Außerdem erhoffen wir uns von der Methode auch ein besseres klinisches Outcome der Patienten in Bezug auf Schmerz und Lebensqualität.“
Seit rund zwei Jahren nutzt die Neurochirurgie in Berlin-Buch die AR-Technologie bereits. Die aktuelle Zwischenbilanz ist vielversprechend: Mehrere Studien konnten belegen, dass sie die operative Leistung verbessert: „Die Einstellung der idealen Krümmungsradien der Schrauben-Stab-Systeme gelingt ohne Augmented Reality-Unterstützung auch sehr versierten Chirurgen nicht immer“, so Dr. Ryang. „Doch mithilfe der AR sind praktisch alle Chirurgen in der Lage, ein perfektes Ergebnis zu erzielen.“
Augmented Reality bewirkt aber noch mehr Gutes: Die AR-gestützten Operationen führen zu kürzeren OP-Zeiten und damit auch der Dauer der Narkose. Damit setzt sich ein positiver Trend bei Wirbelsäulen-Behandlungen fort: Minimal-invasive neurochirurgische Eingriffe am Rücken werden immer schonender.
„Unser Beispiel aus Berlin-Buch zeigt, was es heißt, eine medizinische Innovation ganz praktisch zu den Patienten zu bringen“, freut sich Prof. Ryang. „Es ist nicht die eine große Revolution, die über Nacht alles ändert. Wir kombinieren vielmehr verschiedene innovative Lösungen, um Schritt für Schritt bessere Ergebnisse für unsere Patienten zu erzielen“, resümiert die Expertin.
Autorin: Brigitte Baas